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Einfach mal was ganz anderen machen…

Wie mich dieser Wunsch in eine anglikanische Kirchengemeinde führte

Ich sitze mit meiner besten Freundin auf den Stufen vor einem geschlossenen Geschäft, irgendwo in Berlin-Steglitz. Es ist warm, obwohl es erst Mai ist. Wir schlecken ein Eis und reden über unsere Masterpläne – vor allem um von unserer Bachelorarbeit abzulenken, die am heimischen Schreibtisch auf uns wartet – also darauf wartet verfasst zu werden. Münster und Würzburg sind bei mir in der engeren Auswahl. Ein VWL-Master soll es sein, aber bitte mit mehr politischem Bezug als im Grundstudium. Aus Berlin muss ich erstmal raus, so viel steht fest. Eher beiläufig erwähne ich: „Eigentlich wollte ich ja nach dem Bachelor immer nochmal ein Gap Year machen.“ Meine Freundin guckt mich erwartungsvoll an. „Was?“ Sie zieht die Augenbraun hoch und sagt: „Ja, dann jetzt.” Sie hat recht. Der Gedanke ans Masterstudium hatte sich unbemerkt in meinen Kopf geschlichen, ohne dass ich über andere Optionen nachgedacht hatte. Wieder zu Hause setze ich mich an den Laptop und recherchiere.

 

7. November 2018 – Die Bachelorarbeit ist seit August abgegeben. Die Vorbereitungsseminare mit meiner Organisation GVS (Global Volunteer Services) sind absolviert. Ich sitze in der Abflughalle des Flughafen Hannover und schaue auf die Anschlagtafel über dem Gate: Manchester. 10 Monate werde ich gemeinsam mit Lisa, meiner Mit-Freiwilligen in einer anglikanischen Kirchengemeinde in Doncaster arbeiten. Doncaster liegt etwa zwei Stunden östlich von Manchester in South Yorkshire.

 

Vor der Gemeinde in Gottesdienst
Vor der Gemeinde in Gottesdienst

Ich werde herzlich empfangen und fühle mich vom ersten Tag an wohl. Meine Sorge, nicht genug zu tun zu haben bestätigt sich nicht. Die St. Francis Church ist keine von diesen Kirchengemeinden, die ihre Türen sonntags von 10 bis 12 öffnet und ansonsten geschlossen hält. Hier ist immer etwas los: Seniorentreff am Montag, Familiennachmittag am Dienstag gefolgt von der Jugendgruppe am Abend, Krabbelgruppe am Mittwoch. Und an allen Tagen außer montags ist das Community Café geöffnet, in dem sich nicht nur Gemeindemitglieder zum gemeinsamen Kaffeetrinken treffen, sondern zum Beispiel auch die Mitarbeiterinnen der örtlichen Apotheke zum Mittagessen. Diese Kirche ist ein Treffpunkt für Jung und Alt, gläubig und nicht-gläubig. Innerhalb kürzester Zeit kennen mich alle beim Namen, anders herum dauert es etwas länger.

 

Was mich besonders beeindruckt: Die St. Francis Church hat weder Gemeindehaus noch Kirchengebäude in dem Sinne. Unsere „Kirche“ ist vielmehr eine Mehrzweckhalle, ein 60-er Jahre Bau mitten im Ortskern unseres Stadtteils Bessacarr. Wo am Sonntag Stühle aufgereiht stehen und Gottesdienst gefeiert wird, spielen die Kids am Dienstag Fußball oder Basketball. Das bedeutet viel Rumräumerei, aber hier sind immer genug helfende Hände, sodass es nie beschwerlich wird. Für mich ist dieser Raum auch ein Zeichen dafür, wie sehr auf jede einzelne Gruppe eingegangen wird. Es wird keine Mühe gescheut, um allen das Gefühl zu geben willkommen zu sein.

 

Unsere Räumlichkeiten – hier hergerichtet für die Krabbelgruppe
Unsere Räumlichkeiten – hier hergerichtet für die Krabbelgruppe

Lisa und ich sind überall mit dabei. Wir puzzlen mit Senioren und servieren ihnen den Soup-Lunch, toben mit den Kindern durch die Kirche, bereiten Bastel- und Backaktionen für die Teens vor und helfen im Café oder bei der Kinderkirche am Sonntag. Wir dürfen sogar einen eigene Funafternoon planen und uns mit einer interaktiven Bibel-Zeitreise kreativ austoben. Es tut so gut praktisch zu arbeiten, fernab von Lernstress und Prüfungsdruck. An unseren freien Tagen fahren wir in den Peak District zum Wandern, zum Sightseeing nach London oder zum Shopping nach Sheffield.

 

Wenngleich unsere Hauptaufgabe hier nicht war, Menschen zu missionieren, sondern in aller erster Linie ihnen und der Gemeinde zu dienen, so war dieser Auslandsaufenthalt für mich persönlich doch eine große Glaubensreise. Unser Pastor, Richard, ist mir – gerade mit seiner dienenden Herzenshaltung – zum geistlichen Vorbild geworden und ich darf überzeugter als jemals zuvor von mir behaupten Christin zu sein und an einen liebenden und allmächtigen Gott zu glauben. Seit August bin ich zurück und habe mein Masterstudium in Würzburg begonnen. Diese Auszeit mag mich ein Jahr gekostet haben, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich gewonnen habe: Erfahrung, einen tiefen Glauben und ein zweites Zuhause mit vielen lieben Menschen.

 

Bei einer Wanderung im Peak District
Bei einer Wanderung im Peak District

Autorin:   Anna, hat  ihren Bachelor in Berlin gemacht und war während dieser Zeit in der JONA, studiert nun im Master VWL in Würzburg in der Studienförderung.