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Eine Promotion in zwei Ländern. Eindrücke aus Finnland

1.         Cotutela

 Als Promotionsstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung zog es mich im Herbst 2019 für fast ein Jahr nach Jyväskylä in Finnland. Ich promoviere in der Philosophie an der Universität zu Köln und der Universität Jyväskylä in einem binationalen Promotionsverfahren (Cotutelle/Cotutela), an dessen Ende ein gemeinsam verliehener Doktortitel stehen wird.[1] Die Cotutela-Verhandlungen für einen Vertragsabschluss zwischen den jeweiligen Universitäten dauern häufig viele Monate, da sie sich am Einzelfall orientieren. Für mich bedeutet dies, dass ich in beiden Universitäten eingeschrieben bin und eine Doktorarbeit schreibe, die ich am Ende in zwei Ländern verteidigen werde und darüber hinaus alle Anforderungen beider Universitäten erfülle. Zusätzliche Studiengebühren fallen dabei in Finnland nicht an. Während es in Deutschland üblich ist, dass man neben der Dissertationsschrift eine gewisse Anzahl an ECTS-Punkten nachweisen muss, die man in selbst gewählten Kursen oder durch Konferenzbeiträge erwerben kann, orientiert sich das finnische Modell eher an den Promotionsprogrammen der USA und schreibt daher festgelegte Kurse vor, in denen eine weitaus höhere Anzahl an ECTS-Punkten erworben werden.

 

2.         Promovieren in Deutschland

 Es ist sicherlich kein Geheimnis, dass viele Promovierende an deutschen Universitäten – vor allem in den Geisteswissenschaften – ziemlich isoliert sind, also allein und abgeschieden arbeiten und der Austausch mit Gleichgesinnten und Kolleginnen nicht regelmäßig stattfindet.[2] Nicht selten klagen Promovierende auch über das Betreuungsverhältnis zu ihrer Doktormutter oder ihrem Doktorvater. Die größten Herausforderungen in einer Promotion – auch im Vergleich zu einem Bachelor- oder Masterstudium – sind aus meiner Sicht das völlige Fehlen von äußeren Strukturen und Vorgaben sowie die reduzierten sozialen und kollegialen Kontakte. Als Geisteswissenschaftlerin hat man beispielsweise keine Labortätigkeiten, keine Gruppenarbeiten, im Allgemeinen keine zeitlichen Vorgaben und der Austausch mit anderen Forscherinnen findet aus verschiedenen Gründen nicht regelmäßig statt. Sicherlich gibt es hier große individuelle und fachbereichsspezifische Unterschiede. Ein Unterschied besteht auch darin, ob man eine Promotionsstelle hat, in deren Zusammenhang man unterrichtet und einen engeren Austausch mit Kolleginnen pflegen kann, oder ob man seine Promotion selbst bzw. durch ein Stipendium finanziert. Nicht zuletzt spiegelt sich auch das Interesse der Universitäten bzw. „der Wirtschaft“ und „Gesellschaft“ an „ihren“ Promovierenden in den (nicht) vorhandenen Unterstützungsangeboten für diese Zielgruppe wider.

Im Großen und Ganzen lässt sich also festhalten, dass eine Promotion eine besondere Herausforderung ist. Die größere Freiheit in der Zeiteinteilung bedeutet nicht nur mehr Verantwortung und ständige Disziplin, sondern sie kann mit einem Zustand permanenter Unzufriedenheit einhergehen, weil die Ergebnisse und Erfolge der eigenen Arbeit sich erst langfristig einstellen, während Arbeits- und Erfolgsdruck jedoch zugleich ständig spürbar sind. Nicht zuletzt wird man von einer stets vorhandenen existenziellen Sorge um die Zukunft begleitet, die, so vermute ich, vor allem Geisteswissenschaftlerinnen betrifft.

 

 [1] Im Promotionsverfahren „Doctor Europaeus“ promoviert man an drei Universitäten in drei europäischen Ländern.

[2] Die Begriffe „Kollegin“ und „Forscherin“ u. ä. schließen jeweils auch die männliche Form mit ein.

3.         Promovieren in Finnland

An finnischen Universitäten werden Promovierende insofern mehr geschätzt, als dass sie den Universitäten, vor allem durch ihre Veröffentlichungen, schließlich einen finanziellen Nutzen bringen. Promovierende, die ein universitätsexternes Stipendium bekommen, gehen ebenfalls positiv in die Statistiken ein. Auch deshalb bietet beispielsweise die Universität Jyväskylä Kurse und individuelle Betreuung für Bewerbungsprozesse an. Für Promovierende gibt es in Finnland eine Vielzahl an Stiftungen, bei denen sie sich auch mehrfach während der gesamten Zeit der Promotion bewerben können.

Das Kursangebot für Promovierende an der Universität Jyväskylä, in dessen Rahmen ich die meisten Kurse belegte, ist darauf ausgerichtet, sowohl auf die akademische Laufbahn vorzubereiten als auch Perspektiven für den nicht-akademischen Werdegang in Finnland aufzuzeigen. Die inhaltliche Weiterqualifikation in den jeweiligen Fachgebieten ist, zumindest in meinem Fach, nachrangig. In den Kursen werden Promovierende aus unterschiedlichen Fachbereichen unterrichtet. Neben der Dissertationsschrift, die in Deutschland größtenteils als Monographie verfasst wird, ist auch unter den Geisteswissenschaftlerinnen in Finnland die Artikel-Promotion (kumulative Dissertation) weit verbreitet.

Das Publikum in den einzelnen Kursen, die ich besuchte, war daher stets bunt gemischt. Die Unterrichtssprache in meinen Kursen war Englisch, es gab parallel aber viele Kurse auch auf Finnisch. Die Dozentinnen standen dabei vor der Herausforderung, ihren Unterricht an die jeweiligen Hintergründe und Bedürfnisse der Promovierenden anzupassen. Zusammenfassend kann ich sagen, dass mich das Engagement jeder einzelnen Dozentin sehr beeindruckt hat. Die Universität Jyväskylä, die zwar erst 1863 gegründet wurde, die aber die erste Universität in Finnland war, an der Lehrerinnen ausgebildet wurden, ragt meiner Meinung auch heute durch ihre pädagogische Grundeinstellung heraus. Nicht zuletzt habe ich nicht nur inhaltlich viel gelernt, sondern auch durch die Art, wie gelehrt wurde, neue Einsichten gewinnen können. Dies veränderte auch meine Meinung über die Bedeutung und den Nutzen pädagogisch und didaktisch durchdachten Unterrichts.

Auch in meinem Doktorandenseminar (für Philosophinnen) fiel mir auf, wie offen, direkt und ehrlich die Promovierenden miteinander diskutierten und sich wechselseitig durch konstruktive und wohlwollende Kritik unterstützten. Diese scheinbar selbstverständliche Diskussions-, Kommunikations- und Kooperationskultur lässt sich bereits unter Bachelor- und Masterstudierenden in Finnland beobachten – sie wird also von Anfang an eingeübt und gefördert. Umso erstaunlicher war es für mich, dass sich in einem Seminar, in dem hauptsächlich Studentinnen aus dem Ausland (also nicht aus Finnland) teilnahmen, dieser Kommunikationsstil allein durch die Dozentin und ihren Unterricht auf die Studierenden übertrug.

Im Allgemeinen sind die Dozentinnen sehr am individuellen Fortschritt ihrer Studentinnen interessiert und es gibt flache Hierarchien. Emails werden schnell beantwortet, was aber auch bedeutet, dass man selbst schnell antworten sollte, wenn man eine Email erhält. An der Universität und im Alltag duzt man einander.

Als Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung hatte ich zudem das Privileg, einen Arbeitsplatz in einem Büro in einem Universitätsgebäude zu erhalten sowie Zugang zu Arbeitsmaterialien und den Druckern. Dadurch konnte ich gut arbeiten und auch bei gemeinsamen Kaffeepausen Kontakt zu anderen Promovierenden aufbauen.

 

4.         Leben in Finnland

 

In Finnland wird sehr viel Kaffee getrunken. Dieser ist auch im Vergleich zu anderen Lebensmitteln preiswert und überall verfügbar. Meine alltäglichen Dialoge, die natürlich auch aufgrund meiner Sprachkenntnisse eingeschränkt waren, kann man sich so vorstellen:

 

Hallo.

      Hallo.

Kleiner Kaffee.

      1,50.

Danke.

      Danke.

 

Um in Finnland zu kommunizieren, braucht man eigentlich nur zwei Worte: „Hallo“ und „Danke“. Das Wort „Bitte“ gibt es im Finnischen, wie im Deutschen gebräuchlich, nicht. Eine wörtliche Übersetzung als mögliche Antwort auf „Danke“ lautet „sei gut“. Die Finnen benutzen den Imperativ sehr gern. Ein Kind, das im Supermarkt etwas möchte, schreit daher seine Mutter oder seinen Vater beispielsweise mit „Kauf!“ an.

In der Regel wird nicht viel in der Öffentlichkeit erklärt und gesprochen. So zahlt man an der Kasse seine Einkäufe mit Karte, ohne zu sagen, dass man mit Karte zahlen möchte. Es ist oft so, dass man einfach das macht, was man machen möchte, ohne es zu erklären, zu rechtfertigen oder anzukündigen. Spricht man als Ausländerin in ganzen Sätzen, und sogar mit dem krönenden Konjunktiv als Höflichkeitsform, kann man den Finninnen aber jedes Mal ein kleines Lächeln abringen. Das herzlichste Lachen erhielt ich jedoch als ich auf Finnisch meine Handynummer angab, die mit deutscher Vorwahl fast doppelt so lang ist wie eine finnische Nummer.

 

Es gab einige Dinge, an denen ich bemerkte, dass ich in Deutschland sozialisiert wurde und an die ich mich bis zuletzt nicht gewöhnen konnte. Am meisten vermisste ich die deutschen Drogeriemärkte und das umfangreiche Teesortiment. Letzteres scheint überraschenderweise besonders „Deutsch“ zu sein.

Mich überkam auch regelmäßig das Bedürfnis, einmal „richtig“ zu lüften. Das bedeutet, dass ich das Fenster für eine kurze Zeit weit öffnen wollte. Das ist in vielen finnischen Gebäuden nicht möglich, da sich die Fenster entweder gar nicht oder nur einen Spalt weit öffnen lassen. Ein finnischer Freund erklärte mir, dass dies gar nicht nötig sei, da es ein Belüftungssystem in fast jedem Gebäude gebe. In meinem Studentinnenwohnheim hatte ich über einer großen Fensterscheibe einfach zwei schmale Durchbrüche nach draußen in der Wand und darunter eine kleine Fensterluke zum Öffnen. Das Stoßlüften scheint also eine deutsche Tugend zu sein, ob aber der Lüftungsspalt eine finnische Eigenheit ist, konnte ich nicht herausfinden. Des Weiteren gab es in Jyväskylä keinen Bäcker und natürlich vermisste ich frisches, dunkles Brot und Körnerbrötchen, die nicht zu den in Plastiktüten verpackten Backwaren im Supermarkt gehören.

Einer der größten kulturellen Unterschiede, den ich feststellen konnte, ist die Art und Weise, wie man eine kommunikative Situation beendet. Ich bin es gewohnt, dass noch einige vorbereitende oder nette Worte vor dem Abschied gewechselt werden, wie „Ich werde mich mal langsam auf den Weg machen“ oder „Ich geh dann mal“ etc., wenn das Gegenüber nicht gerade eilig zum Zug rennen muss. In Finnland war ich in vielen unterschiedlichen Situationen, in denen mein Gegenüber sich plötzlich und ganz unvermittelt verabschiedet und sich noch im selben Augenblick umdreht oder aufsteht, um wegzugehen. Auch am Telefon passierte es, dass meine Gesprächspartnerin plötzlich „Tschüss“ sagte und ich ganz unvorbereitet und verdutzt zurückblieb. Daran konnte ich mich nicht gewöhnen. Mir fehlte tatsächlich eine sprachliche Ankündigung. Interessanterweise fing ich jedoch selbst an, Situationen auf diese Weise zu beenden und auch heute muss ich mich am Telefon manchmal besinnen, dass ich nicht mehr in Finnland bin. Hinzu kommt, dass die Mimik der Finninnen oft nicht besonders aufschlussreich ist. So wird man bei der Begrüßung nicht notwendigerweise angelächelt und beim Zuhören zeigen sie oft weniger emotionale Regungen, also beispielsweise keine Zustimmung oder Missfallen, sondern gucken eher ausdruckslos. Sie hören zu. Daher muss man immer eine Weile warten, bis man dann anhand der Antwort oder an der Handlung ablesen kann, wie das Gegenüber eingestellt ist.

Man braucht in Finnland immer viel Geduld, aber es wird einem auch viel Geduld entgegengebracht, womit sich das alltägliche Leben spürbar entschleunigt.

 

5.         Leben in Jyväskylä

 

Jyväskylä ist eine kleine Stadt in Mittelfinnland mit ca. 140000 Einwohnern. Das Stadtbild prägen auffallend viele junge Menschen und Familien mit Kindern. Fast überall kann man Sport treibende Personen treffen. Es gibt eine hohe Dichte an Sportvereinen, was auch darauf zurückzuführen ist, dass sich in Jyväskylä die einzige Universität Finnlands befindet, an der man Sportwissenschaften (sport and physical exercise education) studieren kann.

Jyväskylä wird auch Athen des Nordens genannt. Das liegt daran, dass der berühmte Architekt Alvar Aalto in Jyväskylä lebte und wirkte und eine Vielzahl an Bauwerken der Nachwelt hinterließ. Dazu zählen auch einige Gebäude der Universität. Diese wurde 1863 gegründet und ist daher vergleichsweise jung. Heute studieren an der Universität ca. 16000 Studentinnen.

 

Das kleine Zentrum von Jyväskylä weist jedoch nur mit viel Phantasie Ähnlichkeit mit einer südeuropäischen Stadt auf. Man kann wohl eher im Sowjetcharme gehaltene Plattenbauten in trister Leere und antiseptischer Atmosphäre erleben. Hinter vielen Ecken lauern die düsteren Skelette von Einkaufszentren. Verlässt man jedoch den Stadtkern, so gelangt man in kleine Parks und in eine wunderschöne Natur mit vielen Seen und Wäldern. Der Universitätscampus ist ebenfalls von einer klassisch gehaltenen finnischen Natur umgeben. Von meinem Appartement im Studierendendorf war ich in 5 Minuten an einem See und in 10 Minuten im Wald. Das Studierendenwerk der Universität Jyväskylä ist sehr engagiert und bietet den Mieterinnen Arbeits-, Computer-, Gemeinschafts- und Partyräume sowie Werkstätten und viele Freizeitkurse. Es gibt ausreichend Saunen und Waschkeller. Ich habe bisher noch nie ein so engagiertes Studierendenwerk wie in Jyväskylä kennengelernt.

 

In Jyväskylä erlebte ich einen langen Winter mit fast 8 Monaten Schnee und der dunkelsten Jahreszeit, in der die Sonne zu ihren Tiefzeiten gegen 10 Uhr auf- und 15 Uhr unterging. Die sogenannte Sonne versteckte sich meistens hinter grauen, dunklen Wolken. Ich weiß nicht, wie viele Wochen infolge ich sie nicht gesehen habe. Gegen die Dunkelheit half mir viel Arbeit, regelmäßiger Sport, Sauna und soziale Kontakte. Auch meine ehrenamtliche Tätigkeit in einer Kirche half mir durch die Dunkelheit. Die Sonne kehrte ab Mitte Mai, nach dem letzten Schnee, umso eindrucksvoller zurück, begleitet von fast urwäldlich anmutenden Klängen der Wacholderdrosseln. Aber gerade nach diesem dunklen Winter konnte ich das Mittsommerfest, das auf Finnisch „Juhannus“ heißt, ganz anders erleben und in Dankbarkeit und Freude das Licht feiern.

 

6.         Corona

 

Ich könnte noch viel über meine Erfahrungen und Eindrücke aus Finnland schreiben. Leider gehört zum Abschluss dazu, dass Corona auch nach Finnland kam, Sportstätten, Kirchen und die Universitäten mitten im Semester geschlossen wurden. Sämtliche meiner Konferenzen, auf denen ich vortragen sollte, wurden abgesagt. Der Unterricht wurde online fortgesetzt. Der Umgang der Finninnen mit Corona war erwartungsgemäß nüchtern und ruhig, viele Maßnahmen wurden schnell umgesetzt und ohne Proteste angenommen. Abstand zu halten, ist in Finnland sowieso kein Problem. Aber auch hier gab es Tage, an denen das Klopapier ausverkauft war. Die Supermärkte reagierten damit, dass sie irgendwann Palettenweise Klopapier in die Gänge stellten, so dass der Überfluss die Leute und leidenschaftlichen Hamster beruhigte.

 

Auch wenn die letzten Monate, die ich in Finnland verbrachte, durch Corona-Maßnahmen geprägt waren, hatte ich insgesamt eine besondere und prägende Zeit in Finnland, in der sich für mich akademisch und persönlich viel veränderte und entwickelte. Da ich auf vielen verschiedenen Ebenen seit meinem Bachelorstudium einen besonderen Bezug zu Finnland habe und dadurch auch bereits Kontakt zu finnischen Forscherinnen in meinem Gebiet hatte, ist das binationale Promotionsverfahren für mich genau das Richtige und es steht nicht zuletzt im Geiste europäischen Austauschs. Mein Promotionsprojekt wurde in Finnland von vielen Seiten unterstützt und ich konnte es erfolgreich weiterentwickeln.

Eine binationale Promotion bedeutet aber auch mehr Arbeit und zusätzliche Anforderungen im Vergleich zu einem ohnehin sehr fordernden Promotionsvorhaben. Häufige Umzüge, bürokratische Herausforderungen und Veränderungen im sozialen Umfeld gehören ebenso dazu.

Meine Empfehlung für zukünftige Promovierende besteht daher darin, genau zu prüfen, welches Promotionsverfahren für die eigenen Ziele und die persönliche Situation das Beste ist. Bei einer Bewerbung um ein Promotionsstipendium bei der Konrad-Adenauer-Stiftung sollte man meiner Meinung nach ein binationales Promotionsvorhaben bereits bei der schriftlichen Bewerbung gut begründen und offen kommunizieren.

 


Autorin: Regina S. aus der Hochschulgruppe Wuppertal

Bilder: privat