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Mein Auslandssemester: Ein provencalisches Plaisirchen

Ich wage mich in das Wasser des Mittelmeers vor und lasse mich von den mäßig großen, aber doch spürbaren Wellen ein wenig herumschwappen. Es ist einer dieser kleinen Glücksmomente eines sonst vollen Alltags, in dem jeglicher Stress und Trott für einen kurzen Moment dem Genuss eines lange nicht gespürten Eindrucks weicht. Das Wasser ist warm, hat gefühlte 23 Grad. Die Luft um mich herum ist aufgrund des strahlend blauen Himmels noch ein bisschen wärmer. Es könnte das Ende der Sommerferien sein, so Mitte September. Ist es aber nicht - es ist der 27. November, ich befinde mich mitten in meinem Auslands-Wintersemester. Ich studiere in Aix en Provence, an der université Aix-Marseille, an diesem Tag bin ich nach Nizza an die Côte d’Azur für einen Wochenendtrip gefahren.

In diesem Blogartikel möchte ich mit euch teilen, was ich erlebt habe und wie ein Auslandssemester in Frankreich allgemein laufen kann. Bonne lecture!

 

Studieren und Unisystem

Wer von Deutschland nach Frankreich geht, begibt sich universitär in eine völlig andere Welt. Das bedeutet natürlich auf keinen Fall, dass man nicht trotzdem erfolgreich sein kann - aber man sollte sich klar machen, was auf einen zukommt. Das erleichtert einiges.

Es gibt ein Klischee, dass Frankreich ein Land des Frontalunterrichts und Auswendiglernens sei. Nach meiner Erfahrung kann ich sagen: Ja, es hat einen wahren Kern. In meinem deutschen Studium schreibe ich zum Abschluss von Seminaren oft Hausarbeiten, verbunden mit dem recht freien Arbeiten an einem bestimmten, selbst ausgesuchten Thema.

In Frankreich war die einzige Wahl, die ich hatte, die der Kurse. Einmal im Seminar angekommen hieß es dann: Der Prof erzählt und alle schreiben mit, um es irgendwann in einer hochformalisierten, standardisierten Aufsatzform auswendig abrufen zu können. Es ist verschulter, die Seminare ähneln eher Klassen als Gesprächskreisen zur offenen Diskussion, wie man sie aus Deutschland kennt. Es ging mehr um überblicksmäßiges Faktenlernen und Auswendiglernen der Kursinhalte. In der Bibliothek sollten wir dieses Wissen dann durch eigene Lektüren ähnlich überblicksmäßig vertiefen und erweitern. Das ganze sollte regelmäßig und von Tag 1 an passieren, denn es gab durchgehend benotete Zwischenklausuren und Abgaben.

Für mich war dieser grundlegende Unterschied der Arbeitsweisen und -praktiken, der mich recht unvermittelt traf, vor allem am Anfang eine Herausforderung. Doch, und das ist zentral zu betonen, am Ende definitiv meisterbar. Ich finde einige Aspekte des französischen universitären Bildungssystems durchaus zäh und mechanisch. Doch es gab auch Vorteile - man lernt zum Beispiel mehr in die Breite. Deutsche Seminare sind oft sehr fokussiert und steigen in Details ein und heißen dann “Wissenschafts- und Mediengeschichte der quantitativen Historiographie”. Französische Seminare vermitteln mehr formal-deskriptives Allgemeinwissen und heißen so etwas wie “Geschichte Europas im 19. Jhd”. So bekam mein Breiten-Geschichts-Allgemeinwissen einen Schub und ich lernte neue Interessengebiete kennen - googlet mal “Peter Abaelard”, ein super Typ! Es ist also möglich, seine Lieblingsthemen zu finden und an ihnen Spaß zu haben. Trotz vieler Stunden, die man tatsächlich auswendig Inhalte pauken muss.

Es gibt außerdem zentrale organisatorische Unterschiede im französischen Hochschulsystem. So folgen beide Semester beispielsweise unmittelbar aufeinander und bilden ein ganzes Hochschuljahr von September bis Mai. Das Wintersemester endet Mitte Januar. Es ist daher gängige Praxis, entweder für ein Wintersemester oder ein ganzes Jahr nach Frankreich zu gehen, da sich sonst das französische Sommer- und das deutsche Wintersemester überschneiden. Die Noten gehen dabei von 0-20. 10 ist die sogenannte “moyenne”, also die deutsche 4,0, die man zum Bestehen braucht. Die Noten im ganz oberen Bereich, insbesondere die 20/20, werden sehr selten bis quasi nie vergeben, weshalb je nach Uni die 16 oder die 17 als 1,0 zählt.

 

Wohnen

Ich habe während meines Semesters in einem Wohnheim gewohnt. Ursprünglich hatte ich mich auf diversen WG-Seiten umgeschaut, da ich befürchtete, womöglich in einem der internationalen Wohnheime zu landen, in dem viel gesprochen wird, aber nicht Französisch.

Ich entschied mich jedoch gegen eine WG. Zum einen waren sie mit Durschnittspreisen von 500-600€ aufwärts pro Zimmer ca. doppelt so teuer wie das Wohnheim. Aix ist damit in den top fünf teuersten Städten Frankreichs für studentisches Wohnen. Zum anderen sind es in Frankreich oft die Vermietenden, die entscheiden, wer in eine WG kommt. Mit wem man am Ende zusammen wohnen wird, ist oft eine black box. Nur in einzelnen Fällen haben die Bewohner der WG die Entscheidung ganz oder zum Teil bei sich. Hinzu kommt, dass Vermietenden meist Mietende für ein ganzes universitäres Jahr suchen, ich aber nur ein halbes bleiben wollte.

Das Wohnheim war da in vielerlei Hinsicht einfacher. Es kostete, wie schon gesagt, gerade mal 300€ pro Monat, und als Erasmus-Incomings hatten wir quasi eine Garantie auf ein Zimmer, was mir eine womöglich langwierige und lästige WG-Suche ersparte. Ich hatte das Glück, in eine Art Prestigeprojekt der Region einziehen zu dürfen - ein brandneues Wohnheim, das gerade mal drei Jahre in Betrieb war und erst während meines Semesters formell eingeweiht wurde. Mein Zimmer war 18m² recht geräumig und verfügte sowohl über eine eigene Küche als auch ein eigenes Bad. Der wunderbare Blick auf Aix war das letzte i-Tüpfelchen. Zimmer in anderen Wohnheimen hatten in der Regel eine Größe von ca. 10m² und keine eigene Küche. Meine Sorge, ich würde kein Französisch sprechen, war völlig unbegründet gewesen. In unserem Wohnheim herrschte ein Ausländeranteil von ca. 10-20%. In vielen sehr netten Abenden im Gemeinschaftsraum konnte ich mich in eine französische Freundesgruppe integrieren, mit denen ich heute noch in Kontakt bin. Im Sommer gehe ich mit ein paar von ihnen auf das Delta-Festival, eine riesige Pool-Party, bei der der Pool das Mittelmeer ist und der Strand von Marseille der Dancefloor. Ich bin mir also ziemlich sicher, die für mich richtige Wohnform gewählt zu haben.

 

Neben der Uni

Trotz umfangreicher studentischer Anforderungen konnte ich mir auch neben meiner universitären Arbeit zeitliche Freiräume schaffen, was mir zunehmend leichter fiel, je mehr ich mich an die Arbeitsweisen des französischen Systems gewöhnte. Da ich Stipendiat der JONA bin, füllte meine journalistische freie Mitarbeit von diesen einen wesentlichen Teil aus.

Ich hatte schon zuvor für das paneuropäische Social-Media-Projekt “entr” bei der Deutschen Welle in Berlin gearbeitet. In Frankreich konnte ich nach einem kurzen, unkomplizierten Austausch mit der dortigen Redaktionsleiterin einfach projektintern in das französische Team zu France Médias Monde wechseln. So konnte ich ausländische journalistische Arbeitserfahrung sammeln, was in Frankreich sonst allenfalls mit einem institutionalisierten Journalismusstudium möglich ist. Meine Präsenzwoche in der Redaktion in Paris und die eigenständige Umsetzung einer französischen Reportage in Nizza waren dabei definitiv Highlights.

Außerdem führte ich ein Hobby aus Deutschland fort. Ich hatte als Unisport begonnen, Floorball zu spielen, und in Marseille einen Verein gefunden, bei dem ich das erste Mal auch am organisierten Ligabetrieb teilnehmen konnte. Ich war bei einem Heim- und drei Auswärtswochenenden dabei, die im ganzen Land stattfanden und durch die ich neue Orte entdecken konnte. Und ich entwickelte mich natürlich sportlich, aber auch sprachlich fort. Ich würde sagen, dass ich beim Floorball mehr praktisches Französisch gelernt habe als in der Uni, weil hier Slang, Dialekt und Witzchen, Bedeutungen zwischen den Zeilen, eine viel größere Rolle spielen.

Allgemein ließ ich es mir nicht nehmen, einige Reisen zu machen. So hatte ich nach dem Auslandssemester wirklich das Gefühl, nicht nur meine Fach- sondern auch meine Weltkenntnis vorangebracht zu haben und als ganzer Mensch gewachsen zu sein. Ich bereiste nicht nur die spät-spätsommerliche côte d’azur, sondern auch Béziers, um meinen Großonkel zu besuchen. Ich sah in Avignon den beeindruckenden spätmittelalterlichen Papstpalast und biwakierte eine Nacht auf einem Berg in den Alpen. Südfrankreich bot in dieser Hinsicht eine unglaubliche Vielfalt an Orten, von denen viele durch ein Regionalbahn-Jahresticket für gerade einmal 90€ ziemlich günstig zu erreichen waren.

Letzter regelmäßiger Punkt meiner Freizeitgestaltung war - wie soll man auch ohne im Auslandssemester auskommen - Ausgehen. Aix hatte da als Studentenschaft einige gute Angebote. Eine Clubszene gibt es nicht, dafür Bars, in denen DJs spielen und in denen getanzt wird. Der Haupt-Ausgeh-Tag ist Donnerstag, obwohl am Freitag noch ein regulärer Unitag ist. Unter Erasmus-Studierenden wurden jedoch immer wieder auch Parties an Freitagen organisiert. Bei alldem empfehle ich jedoch eine recht weitreichende Affinität für Reggaeton, ohne die kann die Musikauswahl auch mal ein wenig nerven ;).

 

Meine Auslandserfahrung in Frankreich umschreibt das Wort “intensiv” sehr gut, wenn auch teils in völlig verschiedene Richtungen. Einmal in eine universitär-fachliche - gerade am Anfang war es schlicht anstrengend und aufwändig, sich in das neue System einzuarbeiten, bestimmte Schlüsseltechniken und Anforderungen nicht zu kennen. Auch die Sprache war anfänglich trotz vorhandener guter Kenntnisse eine Herausforderung, ich musste mich vor allem daran gewöhnen, sie routinemäßig zu benutzen und auch mal nicht verstanden zu werden. Nicht zuletzt dadurch, dass Aix für mich ein völlig neuer Kontext war, hatte ich oft das Gefühl, mich quasi permanent an den Grenzen meiner Comfort-Zone und manchmal darüber hinaus zu bewegen. Andererseits brachte mir genau das auch unglaublich schöne Erlebinsse - ich lernte bei allen schwierigen Dingen dazu, lernte Freunde kennen und unternahm unvergessliche Dinge. Alltäglich war nichts von alledem - intensiv eben.

Als krönenden Abschluss gelang es mir sogar, in meinem letzten Floorballspiel für Marseille mein erstes Tor zu schießen. Nachdem ich anfangs als Quasi-Neuling ohne große Erfahrung zum Team stieß, hatte ich es tatsächlich geschafft, mich so weit weiter zu verbessern und ins Team einzugliedern, dass ich nach einem Querpass meines technisch deutlich versierteren Mitspielers den Ball aus einem Meter Entfernung über die Linie drücken konnte.

Kein Zaubertor, kein allzu großes Wunder. aber dennoch Frucht der stetigen Entwicklung der letzten Monate. Ein Sinnbild auch für alles andere, was ich in dieser Zeit geschafft habe.

 


Autor: Valentin Heib

Fotos: Privat