
Seit einigen Tagen ist die Anmeldung für die diesjährigen Heidelberger Adenauer-Tage möglich: http://anmeldung.adenauer-tage.de/. Wir laden Euch vom 06. – 09. Oktober 2022 herzlich ein, gemeinsam mit 150 Stipendiaten und Altstipendiaten* sich in unterschiedlichen Vorträgen und Austauschen mit verschiedenen Aspekten der Streitkultur in Politik und Gesellschaft zu beschäftigen. Wir werden uns der Frage stellen, wie Diskussion und Streit heute gelingen können. Nebenbei besteht durch viele gesellige Programmpunkte die Möglichkeit, sich auszutauschen, Neues zu erfahren, sich mit Konstipendiaten zu vernetzen und die wunderschöne Altstadt Heidelbergs kennenzulernen.
Die Geschichte des Streits ist so alt wie die Menschheit selbst. In seiner intimsten Form zeigt sich „Streit“ jeden Tag in unseren alltäglichen Entscheidungen, die sich als Ergebnis eines inneren Abwägens darstellen. In seiner extremen Form begegnet er uns als kriegerische Handlung, bei der dem Wort längst Schweigen geboten wurde. Zwischen diesen Polen findet statt, was wir als Streit- oder Debattenkultur bezeichnen.
Wir streiten jeden Tag und in beinahe jeder Lebenslage. Außerhalb des privaten Wirkbereichs ist es vor allem die öffentliche und politische Debatte, die unsere Demokratie prägt und ihr ein nach außen sichtbares Gepräge verleiht. Dabei ist zu beobachten, dass die (öffentliche) Diskussion um Inhalte und Sachfragen mehr und in den Hintergrund zu rücken und oft durch bloße Fragen des „Wie“ verdrängt zu werden scheinen. Bereits die Anzahl an Wortbeiträgen, Stellungnahmen und öffentlichen Mahnungen betreffend die Verrohung, Entgleisung oder Polarisierung gesellschaftlicher und politischer Diskussionskultur zeugt von einer großen Bedeutung der Frage nach dem „Wie“ des Streitens.
// Demokratie als institutionalisierter Streit.
In Ländern, die in demokratischer Tradition stehen und demokratische Staatskultur leben, sind Gesetze und Regeln des Miteinanders die Grundbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie beruhen oft auf Konventionen und auf über lange Zeiträume hinweg bewährten Vereinbarungen, die sich nicht selten in einem zähen Ringen unterschiedlicher Auffassungen und Ansichten herausgebildet haben und damit Ergebnis eines politischen Streitens sind. Der kontroverse Austausch von Meinungen in Form eines Streitgesprächs ist für eine demokratisch verfasste Gesellschaft von unschätzbarem Wert und ermöglicht ihr erst eine stetige Weiterentwicklung und graduelle Anpassung an die Lebensrealität der Menschen.
Eine Demokratie lebt von dem fortdauernden Konflikt unterschiedlicher Meinungen und dem Ringen um die vermeintlich beste Lösung unter Vertrauen auf bestmögliche Repräsentation in Aussage und Person. Demokratie ist, mit Dahrendorf, „institutionalisierter Streit“.[1] Oder, in den Worten der „Hüterin der Verfassung“, dem Bundesverfassungsgericht: „Demokratie setzt eine ständige freie Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen voraus, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt.“[2]
// Grundfreiheiten als Auftrag zu Streit nach Regeln.
Der Boden für einen „institutionalisierten Streit“ wird in westlichen Demokratien durch ein Zusammenspiel von durch Grundrechen garantierten Freiheiten auf der einen Seite und die diese durch ihr Handeln schützenden Institutionen auf der anderen Seite gewährleistet. Die „vornehmen“ Grundrechte, besonders der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, werden durch eine Reihe weiterer elementarer verfassungsrechtlicher Freiheitsrechte umrahmt. Es obliegt dem Staat und seinen Organen und Behörden, diese Rechte zu schützen. Dies kann in Form von Gesetzen, Verwaltungshandeln, Polizei und nicht zuletzt durch Entscheidungen unabhängiger Gerichte erfolgen, die in einem fein austarierten System geteilter Staatsgewalt die Freiheit des Einzelnen schützen.
// Streitkultur in der Krise.
Legt man diese Einsicht an aktuelle gesellschaftliche Diskurse an, so ist bemerkenswert, dass bereits die beinahe triviale, erste und wichtigste Schlussfolgerung oft schon belastend erscheint, denn die Akzeptanz abweichender oder gar gegenläufiger Meinungen auszuhalten stellt sich vielfach als erstaunlich hohe Hürde dar. Die Bestimmung der Grenzen der Meinungsfreiheit obliegen zwar im Ergebnis auch und vor allem den (Verfassungs-)Gerichten. Der Maßstab, was von der Freiheit der Meinungsäußerung gedeckt, wird dabei objektiv bestimmt. Im Alltag ist aber jeder selbst aufgerufen, eine persönliche Haltung einzunehmen und gegebenenfalls andere Meinungen auszuhalten – was nicht immer leicht erscheint. So zeigen zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, dass im Einzelfall die persönliche Abwägung, gewissermaßen der individuelle Gradmesser, mal mehr und mal weniger stark zugunsten der Akzeptanz anderer – legitimer – Meinungen ausschlägt und die Einordnung, welche Äußerungen wohl noch von der Meinungsfreiheit gedeckt sein sollten, zumindest keine einfache ist. Stellvertretend seien aus den letzten Jahren etwa genannt: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, die Wahl eines FDP-Politikers zum Ministerpräsidenten in Thüringen, „Fridays for Future“ oder „Schulschwänzen fürs Klima“.
Herausforderungen und Schwierigkeiten in der Kultur des Streitens können dabei schon im Nukleus gesellschaftlichen Lebens beobachtet werden, innerhalb der eigenen Familie oder dem engen Freundeskreis. Die Familie oder ein langjähriger enger Freundeskreis verlieren scheinbar zunehmend an Ausgleichs- und Integrationsfunktion und büßen ihren Korrektur- und Anstoßmechanismus ein. Debatten finden, so scheint es, weniger oft „in Gesellschaft“ als vielmehr in digitalen und nicht fassbaren Räumen und Echokammern statt, die keine Ausgleichs-, sondern bloß eine Wiederholungs- und Bekräftigungswirkung zu haben scheinen. Die in jede Richtung wirkende Filterfunktion sogenannter Sozialer Medien trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass im überpersönlichen Diskurs oftmals eine gewinnbringende Auseinandersetzung unmöglich gemacht wird. Wer dafür ist, bleibt dafür und wer dagegen war, ist anders und im „wir gegen die“-Denken ausgegrenzt und abgehängt. Wo sich das „soziale Netzwerk“ auf digitale Kontakte beschränkt, scheint Streitkultur anderen Regeln zu folgen und sich umgekehrt auf das Persönliche nachhaltig (negativ) auszuwirken. Die „sozialen Medien“ bieten in bislang ungekanntem Umfang die Möglichkeit, zugleich ohne Kontrolle, ohne besonderen Aufwand und in großem Stil Meinungen und Ansichten ohne Integritätsnachweis wenigstens des eigenen Namens kundzutun. Im Diskursraum des Internets muss nach den Enthüllungen über Kampagnen, Bots und fehlgeleitete Algorithmen der letzten Jahre beinahe alles in Frage gestellt werden. Wo Meinungskundgabe auf 140 Zeichen oder Videos von 30 Sekunden reduziert werden muss, ist eine gefährliche Mischung aus Verkürzung und scharfer Pointierung bei bisweilen ausfälligem Tonfall vorhersehbar. Die Hemmschwelle zur manipulativen, ungehörigen oder gar strafbaren Äußerung sinkt weiter. Applaus und Beifall erntet, wer zugespitzt anklagt, nicht wer konstruktive Lösungen anbietet.
Gleichsam mit der Digitalisierung des Streits stellen der enorme Wissensfortschritt unserer Zeit und die Verfügbarkeit sämtlicher Informationen zu jeder Zeit eine bemerkenswerte Komponente in der Entwicklung der Streitkultur dar. Es ist nahezu unmöglich, in jedem Fachgebiet einem mit schier unüberprüfbaren Autoritäten und Zahlen versehenen Argument entgegenzutreten. Zugleich drohen bei „abweichenden Meinungen“ zunehmend soziale, weil mediale Ächtung. Immer mehr Menschen scheuen sich vor einer öffentlichen Meinungskundgabe, weil sie einen „shitstorm“ und die dahinter anonyme und aufgebrachte Menge fürchten, die an einem aufrichtigen und argumentativen Austausch kaum interessiert scheint. Erhebliche berufliche und private Konsequenzen sehenden Auges in Kauf zu nehmen ist vielfach – wohl nachvollziehbarer Weise – ein zu großes Risiko.
// Ausblick.
Anlass für die Wahl des diesjährigen Themas der Heidelberger Adenauer-Tage gab nicht zuletzt eine Initiative von Wissenschaftlern und Professoren, die ein interdisziplinäres „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ gegründet haben, um für die Freiheit der Lehre einzutreten und sich gegen ideologisch motivierte Einschränkungen wenden.[3] Doch auch die Feststellung, dass die Mehrzahl der Deutschen die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht und sich in Ansehung drohender Nachteile nicht mehr traut, die eigene Meinung zu sagen[4] ist für uns ein Grund, das Thema der Streitkultur zu betrachten. Denn eine gesunde Streitkultur ist für die demokratische Gesellschaft unabdingbar und braucht, wo sie in Gefahr ist, eine Renaissance.
Der Diskurs braucht neben Grundlage durch Freiheit, Bereitschaft und Streitkultur vor allem stetige Übung und andauernde Fortentwicklung. Die hierfür notwendige Übung findet täglich statt – bei alltäglichen Entscheidungen in der Gruppe, im Vereinsvorstand, durch ein politisches Gespräch. Weiterentwicklung schließlich erfährt der Diskurs durch Aufmerksamkeit, Betrachtung und ein gemeinsames Ziel: Er soll rationaler, nicht emotionsfremder, aber emotionseinhegender Meinungsaustausch sein. So kann er schließlich eine vermittelnde Scharnierfunktion zwischen Privatem und Staat bilden.
Demokratischer Streit verlangt letztlich auf allen Ebenen, was Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Jahr 2019, vor allem „Vernunft auf der einen Seite – die Bereitschaft, mit Argumenten zu überzeugen und sich von besseren Argumenten überzeugen zu lassen – und auf der anderen Seite: Zivilität. Das heißt: Wertschätzung und Vertrauen, Empathie und Respekt für ein Gegenüber, das […] immer auch einen legitimen Teil zur Debatte beizutragen hat.“[5]
Die Heidelberger Adenauer-Tage wollen als Forum verantwortungsfreudiger und gestaltungswilliger junger Menschen ergründen, wie politische und private Diskussion und Streit in der Gesellschaft heute gelingen können. Zum Geleit seien daher einige Gedanken aus- und Themenfelder angesprochen, die den Blick für die Vielschichtigkeit des gewählten Themas weit machen mögen. Für weitere Informationen zum genauen Ablauf, zur Anmeldung oder für Impressionen vom vergangenen Jahr schaut auf unserer Homepage: www.adenauer-tage.de, auf unserer Facebookseite oder bei Instagram (@adenauertage) vorbei.
Wir freuen uns sehr, Euch im Oktober in Heidelberg begrüßen zu dürfen!
Euer Organisationsteam

Zum jetzigen Zeitpunkt laufen die Planungen für die Heidelberger Adenauer-Tage 2022. Mögliche Änderungen können sich noch ergeben. Der Link zur Anmeldung lautet: http://anmeldung.adenauer-tage.de/
Autoren: Für das Organisationsteam der Heidelberger Adenauer-Tage 2022 Clara Keller und Florian Booß
* Zu Gunsten der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.
Literaturverzeichnis:
[1] Dahrendorf, Elemente einer Theorie des sozialen Konflikts, in: ders., Gesellschaft und Freiheit, München 1961.
[2] BVerfGE 97, 350 [369].
[3] https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de.
[4] Nur 45% der Befragten glauben an freie Äußerungsmöglichkeit, das ist der niedrigste Wert seit 1953, vgl. https://rp-online.de/politik/deutschland/aktuelle-umfrage-mehrheit-der-deutschen-sieht-meinungsfreiheit-in-gefahr_aid-59730929.
[5] Rede zur Eröffnung der Digitalkonferenz re:publica 2019.